Kalte Progression führt zu steuerlicher Mehrbelastung
Am 08.07. ist der sogenannte Abgabengedenktag, d.h. bis zu diesem Tag hat der durchschnittliche Arbeitnehmer nur für soziale Abgaben und Steuern gearbeitet. Der Zeitpunkt, ab dem der Beschäftigte sein Gehalt für sich beanspruchen kann, wird sich zunehmend nach hinten verschieben. Denn die Belastung durch die Einkommensteuer wird sich in der laufenden Legislaturperiode um fast 30 Prozent erhöhen. So lautet der Tenor von Wirtschaftsforschern – doch die regierenden Parteien wollen dagegen nichts unternehmen.
Die kalte Progression schlägt zu
Wer gehofft hat, durch die große Koalition aus Union und SPD von Abgaben entlastet zu werden, glaubt auch an Märchen der Gebrüder Grimm. Aber nichts desto Trotz bestand zumindest Hoffnung, dass die Steuerlast nicht weiter steigen wird – das hatten die Parteien zwar nicht ausdrücklich versprochen, aber im Wahlkampf immerhin in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung muss endlich aktiv werden, um die Belastung auch nur konstant zu halten. Werden keine Maßnahmen ergriffen, steigen die finanziellen Aufwendungen für den Bundesbürger fast unweigerlich. Als Grund hierfür gilt die sogenannte „kalte Progression“. Dieser Effekt entsteht, wenn bei Erhöhung des Nominallohns die Steuerschuld überproportional wächst, solange der Steuertarif nur verzögert angepasst wird. Bleiben hier die Lohnerhöhungen unter der Inflationsrate, sinken die realen Nettoeinkommen sogar.
Mehrbelastung von € 24.000.000.000
Der gültige Steuertarif ist seit dem Jahr 2010 nicht mehr angepasst worden. Lediglich der steigende Grundfreibetrag sorgt für eine geringe Entlastung. Hierbei handelt es sich um das Einkommen, das nicht versteuert werden muss – 2014 betrug diese Summe € 8.354 pro Arbeitnehmer. Laut Angaben der „Initiative Soziale Marktwirtschaft“ summiert sich die durch kalte Progression entstandene Mehrbelastung der Bürger auf € 24 Milliarden.
Steigerung des Durchschnittssteuersatz um mehr als 14 Prozent
Der Wirtschaftsflügel der Union drängt auf eine rasche Reduzierung der kalten Progression. Die Höhe der Mehrbelastung wird bestätigt von noch unveröffentlichten Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos, die der „Welt“ vorliegen. Die Parteiführung will allerdings frühestens in der kommenden Legislaturperiode 2018 oder später mit einer Senkung der kalten Progression beginnen. „Ich kann nicht erkennen, dass wir für eine Umsetzung in dieser Legislaturperiode Spielräume haben“, erklärte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) gegenüber der Deutschen Presseagentur.
Den Experten zufolge wird die Summe der zu versteuernden Lohneinkommen zwischen 2013 und 2017 um 17 Prozent steigen, die Summe der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer jedoch um fast 30 Prozent. Der Durchschnittssteuersatz aller deutschen Haushalte würde sich um mehr als 14 Prozent erhöhen. „In den vier Jahren der großen Koalition wird es durch die Progression zu massiven Steuererhöhungen für breite Bevölkerungsschichten kommen“, sagte Michael Böhmer, Chefökonom von Prognos, der „Welt“.
Besonders betroffen sind mittlere Einkommen
Böhmer weist auf eine beginnende Umverteilung hin, die der Gesetzgeber so nicht beabsichtigt haben dürfte. Denn besonders betroffen von der Progression seien die Bezieher mittlerer Einkommen – die große Gruppe der klassischen Facharbeiter im verarbeitenden Gewerbe. Außerdem gelangten auch Bezieher geringer Einkommen zum Teil überhaupt erst in den „einkommensteuerrelevanten Bereich“, so der Chefökonom. Laut seinen Aussagen werden Gutverdiener prozentual weniger belastet. Im obersten Einkommenszehntel etwa, so Böhmer, „spielt die Progression eine geringere Rolle, da sich durch die Einkommenssteigerung keine weitere Erhöhung des Grenzsteuersatzes ergibt“. Doch auch bei diesen obersten zehn Prozent steigt die Einkommensteuerbelastung fast anderthalb mal so stark wie das Gehalt selbst.
Steuererhöhungen durch Unterlassung
Das Bundesfinanzministerium argumentiert, dass die kalte Progression wegen der aktuell niedrigen Inflationsrate nur schwach ausfalle. Dies will Prognos-Ökonom Böhmer nicht gelten lassen: „Diese Betrachtung greift zu kurz. Vielmehr ist der Blick auf die Belastung der gesamten Nominallohnsteigerungen zu legen, die neben der Inflation auch Produktivitätsfortschritte widerspiegeln. Und eine Regierung ist in ihrem steuerpolitischen Kurs nicht nur in einem Jahr, sondern über eine gesamte Legislaturperiode zu beurteilen. Betrachtet man diese vier Jahre, steuert Deutschland gerade auf drastische Steuererhöhungen durch Unterlassung zu.“
Welche Erwartungen sind an eine Regierung zu richten, die auf einem Schuldenberg von fast € 2,1 Billionen sitzt? Es läßt sich leicht leben mit dem „Geld anderer Leute“. Klare Strategien sind häufig nicht erkennbar und es gibt immer wieder halbüberlegte Hauruck-Aktionen, die medienwirksam zelebriert werden. In Wirklichkeit wird meist ein bestehendes Loch gefüllt, indem ein neues aufgemacht wird. Unsere Volksvertreter haben sich mittlerweile weit von ihren Wählern entfernt und man kann sich den Eindruck nicht erwehren, dass er zur „braven Melkkuh“ degradiert ist.